Stellungnahme des Deutschen Gehörlosen-Bunds e. V. – Der Status der Deutschen Gebärdensprache muss systematisch und nachhaltig geschützt und gefördert werden!

Erforderlich ist die Schaffung eines neuen eigenen Gebärdensprachgesetzes!

Im Oktober 2022 haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages einen zehnseitigen Sachstand zum Thema „Gebärdensprache als Amts- oder Minderheitensprache“ veröffentlicht. Auftrag der Wissenschaftlichen Dienste war demnach, Einschätzungen dazu vorzubringen, ob und inwieweit über die in § 6 Behindertengleichstellungsgesetz vorgenommene Anerkennung von Deutscher Gebärdensprache als eigenständiger Sprache hinaus durch die Anerkennung der Gebärdensprache als Amtssprache oder Minderheitensprache (wie z. B. Dänisch, Nord- und Saterfriesisch, Ober- und Niedersorbisch sowie Romanes oder die Regionalsprache Niederdeutsch) zur Verbesserung der Lage der Betroffenen beigetragen werden könnte.

Der Deutsche Gehörlosen-Bund nimmt mit Unverständnis zur Kenntnis, dass die Wissenschaftlichen Dienste, statt diesem Auftrag nachzukommen, festgestellt haben, dass die Deutsche Gebärdensprache keine Minderheitensprache sei und auch nicht als Amtssprache verwendet werden könne.

Der Deutsche Gehörlosen-Bund nimmt dies zum Anlass, wichtige Klarstellungen vorzunehmen. Des Weiteren fordert er, dass die Deutsche Gebärdensprache schnellstmöglich als Minderheitensprache anerkannt und ihr Gebrauch in der Gesellschaft als Gebot eines inklusiven Verständnisses von Sprache gefördert wird.

Seit nunmehr 20 Jahren, seit dem 1. Mai 2002, ist die Deutsche Gebärdensprache mit Inkrafttreten des § 6 Absatz 1 des Behindertengleichstellungsgesetzes als eigenständige Sprache anerkannt.

Die Deutsche Gebärdensprache ist eine Sprache mit Eigenschaften auf allen linguistischen Ebenen (Lexikon, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik und Soziolinguistik). Eine Schriftsprachtradition hat die Deutsche Gebärdensprache nicht. Allerdings ist bei mehr als der Hälfte der Lautsprachen ebenfalls keine Schriftsprache vorhanden (z. B. bei Sprachen im Amazonasgebiet oder in Afrika).

Traditionell leben Nutzer/-innen der Deutschen Gebärdensprache seit dem 18. Jahrhundert auf deutschsprachigem Gebiet und bilden eine historisch gewachsene Minderheit, die sich selbst als „Gebärdensprachgemeinschaft“ bezeichnet und versteht. Heute gibt es zudem eine Vielzahl von eingewanderten Nutzerinnen und Nutzern verschiedener Gebärdensprachen in Deutschland.

Als früheste belegte Aufzeichnung der Nutzung der Deutschen Gebärdensprache im deutschsprachigen Raum gilt eine erste Etablierung des Schulwesens für gehörlose Kinder im 18. Jahrhundert in Berlin und Leipzig.

Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren die gehörlosen Nutzer/-innen der Deutschen Gebärdensprache Verfolgung und Rassenwahn ausgesetzt, der sich z. B. in Zwangssterilisation äußerte. Gehörlose Nutzer/-innen der Deutschen Gebärdensprache mit jüdischer Abstammung waren in Deutschland, in den deutsch besetzten Gebieten und in den mit Hitler verbündeten Staaten dem Holocaust ausgeliefert. Die Überlieferung ihres sprachlich- kulturellen Erbes wurde erheblich beeinträchtigt. Die NS-Schreckensherrschaft bedeutete daher nicht nur einen sprachlich-kulturellen Bruch, sondern hatte auch zur Folge, dass sich viele Nutzer/-innen der Deutschen Gebärdensprache bis Anfang der 1980er Jahre nicht (mehr) als solche in der Öffentlichkeit zu erkennen gaben.

Heute stehen die seit Jahrhunderten hier lebenden Nutzer/-innen der Deutschen Gebärdensprache angesichts der fehlenden Anerkennung als nationale sprachlich-kulturelle Minderheit nach wie vor unter keinem besonderen Schutz.

Zur Vertretung ihrer Interessen und zur Stärkung ihrer Kultur haben sich die deutschen Nutzer/- innen der Deutschen Gebärdensprache in verschiedenen Vereinen und Verbänden auf unterschiedlichen Ebenen organisiert.

An Universitäten und Fachhochschulen (z. B. Berlin, Hamburg, Heidelberg, Göttingen, Köln, Landshut, Magdeburg, München und Zwickau) wird die Deutsche Gebärdensprache wissenschaftlich erforscht. Auch die Geschichte, Kultur und Gegenwart der sprachlich-kulturellen Gehörlosengemeinschaft bzw. Gebärdensprachgemeinschaft und die Situation der Nutzer/- innen der Deutschen Gebärdensprache in der Bildung, im Arbeitsleben und in gesellschaftlichen Bereichen sind Gegenstand der Forschung und Lehre. Zudem finden hier bildungspolitische und pädagogische Arbeit sowie Öffentlichkeitsarbeit zum Thema der Gebärdensprachen und der Lebenszusammenhänger ihrer Nutzer/-innen statt.

Ein besonderes Augenmerk verdient die systematische Sprachdokumentation der Deutschen Gebärdensprache im Rahmen des Langzeitvorhabens der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.3 Dort sind regionale Variationen der Deutschen Gebärdensprache systematisch erfasst. Allerdings besteht nach wie vor ein sehr großer Bedarf an weiterer wissenschaftlicher Arbeit, die auch gefördert werden muss.

Nichtsdestotrotz gibt es in Deutschland nach wie vor keine Einrichtung für den Schutz und die Förderung der Deutschen Gebärdensprache, obwohl dies auf europäischer Ebene gefordert wird, z. B. gemäß der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates.

Um die Deutsche Gebärdensprache besser zu verankern, weiter zu fördern und damit auch die politische, soziale und kulturelle Identität ihrer Nutzer/-innen, die sie häufig als Erstsprache erworben haben, zu schützen und zu stärken, fordert der Deutsche Gehörlosen-Bund die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache als nicht territorial gebundene Minderheitensprache nach Artikel 1 (Begriffsbestimmungen) lit. c und Artikel 7 (Ziele und Grundsätze) Absatz 5 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. September 1992.4 Artikel 7 Absatz 5 der Charta regelt, dass die Bedürfnisse und Wünsche der Gruppen, die diese (nicht territorial gebundenen) Sprachen gebrauchen, berücksichtigt und ihre Traditionen und Eigenarten geachtet werden müssen. Weder hier noch an anderer Stelle der Charta wird ausgeführt oder verlangt, dass die Minderheit ethnisch oder gar in irgendeiner Weise als Volk bestimmt sein muss, wie es die Wissenschaftlichen Dienste in Abschnitt 2.2. des Gutachtens unter Berufung auf eine Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern und für Heimat5 tun. Damit eine Sprache für eine Gruppe von Menschen identitätsstiftend ist, wie verlangt wird, muss diese Gruppe weder auf einem gemeinsamen Territorium leben noch muss sie ein „Minderheitenvolk“ darstellen, was auch immer das genau sein soll. Auch dass nur Lautsprachen Minderheitensprachen sein könnten, wie die Wissenschaftlichen Dienste ebenfalls an dieser Stelle referieren, ergibt sich nicht aus der Charta und widerspricht auch sowohl der UN-Behindertenrechtskonvention als auch Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes, insoweit es Menschen mit Behinderungen, deren Sprache die Deutsche Gebärdensprache ist, gegenüber anderen Minderheiten, die eine eigene Lautsprache sprechen, ohne rechtfertigenden Grund benachteiligt.

Vollständige Stellungnahme Deutscher Gehörlosenbund PDF

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