Aktion Mensch veröffentlicht Längsschnittstudienprojekt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in 16 Mitgliedsstaaten
(Aktion Mensch/red; ahi) Eine im Auftrag der Aktion Mensch durchgeführte Studie hat untersucht, inwiefern sich die Fortschritte der Vertragsstaaten bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) miteinander vergleichen lassen. Auch wenn die Datenlage noch dünn ist, zeichnet sich ab, dass Deutschland in wichtigen Bereichen stärker auf der Bremse steht als andere Länder. Laut Studienauftraggeber will die Untersuchung jedoch keinen Staat an den Pranger stellen, sondern vielmehr den untersuchten Staaten helfen, zu erkennen, wo sie bei der Umsetzung von Inklusion im internationalen Vergleich stehen, wo sie Nachholbedarf haben und auf welche nächsten Schritte sie sich konzentrieren müssen. Der Studienbericht der Rechtswissenschaftlerin Dr. Fiona MacDonald liegt sowohl in der englischen Originalversion als auch in der deutschen Übersetzung vor.
Die vier Forschungsfragen der Studie lauteten:
- Gibt es Unterschiede im Grad der Umsetzung der UN-BRK zwischen den Vertragsstaaten?
- Gibt es Unterschiede zwischen den Staaten hinsichtlich der Fortschritte/Rückschritte bei der Umsetzung der UN-BRK zwischen den Zeiträumen?
- Können die Vertragsstaaten nach dem Grad oder den Fortschritten der Umsetzung eingestuft werden?
- Lassen sich thematische Schwerpunkte erkennen, in denen sich die Abschließenden Bemerkungen bestimmter Vertragsstaaten von denen anderer Staaten unterscheiden?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurden 29 Abschließende Bemerkungen des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen folgender 16 Staaten untersucht: Argentinien, Australien, Österreich, China, Ecuador, El Salvador, Deutschland, Ungarn, Mexiko, Mongolei, Neuseeland, Paraguay, Peru, Südkorea, Spanien und Tunesien. Alle dieser 16 Vertragsstaaten haben den Überwachungsprozess bereits zweimal durchlaufen.
Wie bewertete die UN bislang Deutschlands Bemühungen bei der Umsetzung der UN-BRK?
Deutschland erhielt, wie einige andere Länder auch, bislang zwei Dokumente mit Abschließenden Bemerkungen nach einer Staatenprüfung: Erstmals 2015 und zum zweiten Mal am Ende des zusammengezogenen 2. und 3. Prüfverfahrens im September 2023. Beide Male gab es Lob, aber auch sehr deutliche Kritik vom UN-Ausschuss sowie Empfehlungen und Forderungen, wie die UN-BRK in Deutschland besser umgesetzt werden soll.
Gelobt hatte der Ausschuss bei der letzten Prüfung verschiedene gesetzliche Neuregelungen, die in Deutschland in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht worden sind. Beispielsweise die Reform des Betreuungsrechts, das sich jetzt deutlicher am Willen der unterstützten Person orientiert. Oder das Bundesteilhabegesetz, wodurch Leistungen für Menschen mit Behinderungen nun personenzentriert und nach den Wünschen der Menschen angeboten werden sollen. Auch die Aufhebung des bis 2019 geltenden Wahlrechtsausschlusses für bestimmte Gruppen von Menschen mit Behinderung zählt zu diesen Fortschritten.
Doch speziell bei den Artikeln der Konvention, in denen es um den Abbau von Sonderstrukturen und Diskriminierung geht, hagelte es bei der zweiten Prüfung deutliche Kritik. Nachdem der UN-Ausschuss bereits in seinen Abschließenden Bemerkungen zur ersten Staatenprüfung 2015 Deutschlands Fortschritte in diesen Bereichen als unzureichend bemängelt hatte, forderte er Deutschland diesmal nachdrücklich auf, Sondereinrichtungen wie Förderschulen, Werkstätten oder auch große Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Außerdem wird Deutschland dafür kritisiert, dass das alltägliche Leben vieler Menschen mit Behinderung durch einen eklatanten Mangel an Barrierefreiheit geprägt ist, etwa beim Zugang zu Kultur- und Freizeitangeboten oder auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Auch der Aufbau eines inklusiven Gesundheitssystems wird angemahnt. So deutliche Kritik wirft die Frage auf: Machen andere Staaten es besser?
Ergebnisse der Studie
Auf den ersten Blick fällt auf: Keiner der untersuchten Staaten steht gut da bei der Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der Ausschuss äußerte in seinen Abschließenden Bemerkungen schwere Bedenken gegenüber jedem Vertragsstaat. Entsprechend liegen die Gesamtergebnisse der Staaten nicht weit auseinander.
Schaut man sich aber einzelne Artikel der Konvention genauer an, dann werden doch deutliche Unterschiede erkennbar, die zeigen, in welchen Bereichen einzelne Mitgliedsstaaten den größten Handlungsbedarf haben – auch im Vergleich zu anderen Ländern.
Diese Ergebnisse stellen zunächst eine Tendenz dar. Belastbarere Aussagen würde die Untersuchung einer größeren Anzahl von Abschließenden Bemerkungen liefern, sagt die Autorin der Studie, Fiona MacDonald. Dabei wäre dann auch zu prüfen, welche Faktoren mit in die Bewertung durch den UN-Ausschuss hineinspielen und sie beeinflussen. Ist beispielsweise die Qualität der Staatenberichte einheitlich? Fallen Abschließende Bemerkungen kritischer aus, wenn eine engagierte und gut organisierte Zivilgesellschaft des geprüften Staates einen eigenen Parallelbericht vorlegt, der auf Versäumnisse bei der Umsetzung der UN-BRK hinweist?
Über alle untersuchten Abschließenden Bemerkungen hinweg äußerte der UN-Ausschuss auffallend häufig Bedenken im Zusammenhang mit den Themen „intersektionale Diskriminierung“, also dem Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsmerkmale, und „Institutionalisierung“, also dem Festhalten an Sonder- und Parallelstrukturen in den Bereichen Wohnen, Bildung und Arbeit. Das deutet darauf hin, dass es sich bei diesen Themen um Kernprobleme handelt, deren Beseitigung für die Umsetzung der UN-BRK von entscheidender Bedeutung ist. Wenn es den Vertragsstaaten gelänge, in diesen Punkten deutliche Fortschritte zu erzielen, würden sich die Situation ihrer Bürger*innen mit Behinderung deutlich verbessern, so das Fazit von Fiona MacDonald.