Bundestagswahlen 2021
Am 26. September 2021 wählen wir einen neuen Bundestag. Wahlen sind ein Grundpfeiler unserer Demokratie und ein Grundverständnis in unserer Gesellschaft. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in 2019 pauschale Wahlrechtsausschlüsse gekippt hatte, dürfen dieses Jahr auch Menschen mit Behinderung, die eine gerichtlich bestellte Betreuung haben, wählen und so mitentscheiden.
Der Wahlkampf hat bereits begonnen; die Parteien buhlen nun mit Wahlversprechen um die Wählerstimmen. Unabhängig davon, wie sich die neue Regierung zusammensetzen wird: In der Behinderten- und Gesundheitspolitik gibt es nach wie vor viele Missstände, die es in der nächsten Legislaturperiode anzupacken gilt.
In diesem Beitrag zieht die LAG SH Sachsen Bilanz und stellt einige Wahlprüfsteine und Forderungen der Verbände in Deutschland in Grundzügen vor.
Wahlprüfsteine und Forderungen der Verbände
Bereits im Vorfeld der Wahlen hatten die Parteien im Bundestag gemeinsam festgelegt, dass sie nur jeweils acht Fragen beantworten werden. Diese Beschränkung ist zweifelhaft und wirft die Frage auf, warum sich die Parteien im Wahlkampf gegenseitig diffamieren, sich jedoch untereinander abstimmen können, wenn es um Vereinfachung von Prozeduren geht.
Die BAG SELBSTHILFE veröffentlichte im August ihre Forderungen zur Bundestagswahl, sowohl in Lang- als auch in Kurzform. Als zentral erachtet sie die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und die Patientenorientierung des deutschen Gesundheitswesens. Letztere solle vor allem durch eine Stärkung der Arbeit der Patientenvertretung gesichert werden. Zudem fordert die BAG SELBSTHILFE, dass sich die künftige Bundesregierung ihrer Aufgaben im Bereich der Behindertenpolitik bewusstwerde und diese mit Tatkraft angehe. Als Beispiel zählt sie u. a. eine Nachbesserung im Bundesteilhabegesetz und die Verpflichtung privater Anbieter von Waren und Dienstleistungen zur Schaffung von Barrierefreiheit auf.
Auch der Deutsche Behindertenrat veröffentlichte behindertenpolitische Forderungen. Dazu zählen u. a. die Forderung nach Umsetzung der Inklusion auch in der Corona-Pandemie, Barrierefreiheit als Menschenrecht – so wie auch in der UN-BRK vorgesehen – sowie eine Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben.
Weiterhin entwickelten die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, der Paritätische Gesamtverband, der Sozialverband Deutschland SoVD, der Sozialverband VdK Deutschland, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter und die Volkssolidarität Bundesverband Wahlprüfsteine zur Wohnungspolitik. Die Fragen an die Parteien betreffen Themen wie bspw. sozialer Wohnungsbau, den Schutz von Gewerbemieter*innen, Kosten der Unterkunft, neue Wohnungsgemeinnützigkeit und Wohngeld.
Der Rollstuhl-Kurier stellte den Sprechern für Behindertenpolitik der sechs im Bundestag vertretenen Parteien jeweils acht Fragen. Diese sind so konkret wie möglich formuliert, um auch konstruktive und plastische Antworten der Sprecher zu erzielen. Dabei ist es interessant, dass sich die Parteien zum größten Teil einig zu sein scheinen, was die Missstände angeht. Konkrete Lösungsvorschläge formulieren jedoch nicht alle genau.
Die Diakonie Deutschland startete am 10. August ihr Informationsangebot „Sozial-O-Mat“. In diesem werden die Antworten der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien zu den wichtigsten sozialen Themen der Bundestagswahl 2021 aufgeführt: Arbeit, Gesundheit, Familie und Kinder sowie Migration. Wähler können, ähnlich wie beim sogenannten „Wahl-o-mat“ der bpb, ihre Standpunkte mit den Antworten der Parteien vergleichen.
Informationen zu den Bundestagswahlen in Leichter Sprache trägt die Arbeiterwohlfahrt auf ihrer Website zusammen.
Eine kurze Bilanz der letzten Jahre
Nicht wegzudenken ist die Corona-Pandemie, die Ende des Jahres 2019 begann und seit Winter 2020 auch in Deutschland das Leben aller Menschen auf den Kopf stellte – bei manchen mehr, bei anderen weniger. Vor allem auch Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen wurden zu Beginn und während der Krise vergessen oder schlichtweg nicht mitgedacht. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wurden ersatzlos geschlossen, mobile Pflegekräfte fielen aus. Bei der Impfpriorisierung standen Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, die zum Teil sehr auf die Impfung angewiesen waren, hintenan. Die Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Triage-Situation schließlich führten zu menschenrechtsverletzenden Aussagen. Wenn Menschen aufgrund ihrer Behinderung eine Behandlung verwehrt wird und Menschen ohne Behinderungen bevorzugt behandelt werden, ist das ableistisch und grundgesetzwidrig.
Im politischen Diskurs kommt das Thema Werkstätten für Menschen mit Behinderungen nun vermehrt zur Sprache. Dies mag zum Teil an den bevorstehenden Bundestagswahlen liegen, vor der die Parteien nun Resümee ziehen, zum Teil vielleicht aber auch an der Petition von Lukas Krämer. Dieser fordert in seiner Kampagne #StelltUnsEin den „Mindestlohn für Menschen in Behindertenwerkstätten“, eine echte Inklusion im Arbeitsleben sowie damit einhergehend auch die langfristige Abschaffung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Früher arbeitete Herr Krämer in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen; heute ist er YouTuber und arbeitet im Büro der Politikerin und Sprecherin für Behindertenpolitik Corinna Rüffer MdB (Bündnis 90/DIE GRÜNEN).
Die Parteien im Bundestag positionieren sich sehr unterschiedlich zur Thematik Werkstätten. Einig sind sich alle in einem Punkt: Das System muss reformiert werden. Aber wie, dazu gibt es höchst verschiedene Ansätze (konkrete Aussagen finden Sie u. a. beim Rollstuhl-Kurier). Die (noch-)Regierungspartei CDU/CSU hält augenscheinlich viel auf die Einrichtungen oder will sie zumindest nicht abschaffen. So will der Abgeordnete Wilfried Oellers (CDU) „zunächst einmal abwarten was das Sachverständigengutachten sagt und welche Empfehlungen ausgesprochen werden.“ (Quelle: www.eu-schwerbehinderung.eu) Gemäß Oellers ist die Bezahlung in den Werkstätten gar nicht so schlecht: „Das Werkstättenentgelt setzt sich aus vielen verschiedenen Bausteinen zusammen und wenn man alles zusammenrechnet, kommt man auf einen Betrag in Höhe von etwa 1.500 bis 1.600 Euro, die die Menschen mit Behinderung als Werkstatt beschäftigte monatlich zur Verfügung haben.“ Die Zusammensetzung des Betrages rechnet Oellers jedoch nicht vor. Der Bundestagsabgeordnete Peter Weiß (CDU) ist gar der Meinung, dass, wer Mindestlohn will, in den ersten Arbeitsmarkt gehen solle: „Rein oder raus“. Dass diese Chance vielen verwehrt bleibt und nur etwa ein Prozent den Sprung von der Werkstatt in den Arbeitsmarkt schaffen, weiß oder will er offenbar nicht wissen.
Corinna Rüffer positioniert sich da ganz anders: „Diese Leute haben ein Recht darauf von der Arbeit, die sie leisten, am Ende des Monats auch leben zu können und nicht den demütigen Gang hinzulegen, um Grundsicherung beantragen zu müssen.“ Auch Sören Pellmann, Sprecher für Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE, fordert Mindestlohn und reguläre Arbeitsverhältnisse.
Auch die amtierende Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) kritisiert das Werkstattsystem ganz offen, im Gegensatz zu ihren Parteikollegen. Beim Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, sagte sie: „Auch wenn der Übergang aus einer geschützten Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt sehr schwierig ist, gilt es, diesen Weg zu ebnen.“ Die Wertschätzung der Arbeit schlage sich nicht im Entgelt nieder. „Deswegen sollten wir uns Gedanken darüber machen, den Werkstattlohn neu zu regeln und gleichzeitig die derzeitige Deckelung des Arbeitsfördergeldes aufzuheben.“
In ihrer Rede zum Jahresempfang sprach sie wohl eher als Mensch denn als Kanzlerin: „Dass wir alle so selbstverständlich zusammengehören, ob mit oder ohne Behinderung, das sollten wir so früh wie möglich lernen. Daher sollten Menschen mit welcher Beeinträchtigung auch immer von Anfang an dazugehören. Sie sollten in die gleichen Schulen gehen und die gleichen Freizeiteinrichtungen nutzen. Dann wird es selbstverständlicher, in späteren Jahren gemeinsame Wege zu gehen.“ Hier ist offensichtlich, dass für Frau Dr. Merkel Inklusion ein wichtiges Thema ist. In den Jahren ihrer Amtszeit hat sich jedoch hinsichtlich der Inklusion im Bereich der Bildung wenig getan. Dabei gilt es zu beachten, dass Schulbildung letztlich Ländersache ist.
Einen ausführlichen Bericht zum Jahresempfang finden Sie hier.
Ein „Inklusionsforum im Deutschen Bundestag“
Der Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat am 28. und 29. Oktober 2012 Menschen mit Behinderungen zu ihren Belangen in den Deutschen Bundestag eingeladen und versprochen, diesen Kontakt – wie das Jugendparlament – alle zwei Jahre fortzuführen. Es fand seither nur eine fraktionsübergreifende Fachveranstaltung am 23.09.2016 statt. Ein weiteres Behindertenparlament jedoch gab es nicht.
Der Sozialdenker e. V. fordert folglich die Fortführung des Behindertenparlamentes, das „Inklusionsforum im Deutschen Bundestag“, in der 20. Legislaturperiode ein, um mit den Mitgliedern des Bundestages aller demokratischen Parteien über Inklusion, Teilhabe und Barrierefreiheit zu diskutieren und um gemeinsame Rahmenbedingungen festzulegen. Den Aufruf an die Politik kann jede und jeder unterstützen. Der Sozialdenker e. V. ruft alle Verbände, Organisationen und Vereine auf, sich dem Bündnis und dem Aufruf an den Deutschen Bundestag anzuschließen. Denn: Gemeinsam sind wir stark! Gemeinsam fordern wir echte Teilhabe für Alle und Mut zur Inklusion, getreu dem Motto der Behindertenbewegung: „Nichts über uns, ohne uns!“
Autorin: Anne Hiecke