LAG SH Sachsen begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Triage
Bis heute gibt es in Deutschland für die Triage-Situation kein Gesetz, obwohl wir uns bereits seit zwei Jahren in der Covid-19-Pandemie befinden. Triage bezeichnet eine Methode, nach der im Fall knapper intensivmedizinischen Ressourcen in Notlagen oder Pandemien entschieden wird, wer zuerst behandelt wird. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) veröffentlichte im Frühjahr 2020 klinisch-ethische Empfehlungen für solche Entscheidungen. Die DIVI empfiehlt demnach, dass sich die Priorisierung der Patienten am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren soll, d. h. Menschen mit besseren Überlebenschancen sollen zuerst behandelt werden.
Verfassungsbeschwerde
Im Juni 2020 reichten neun Menschen mit Behinderung eine Verfassungsbeschwerde gegen die von der DIVI herausgegebenen Triage-Richtlinien ein, da sie befürchteten, im Fall einer Triage aufgrund ihrer Vorerkrankungen oder Behinderungen nicht behandelt zu werden. Die Beschwerdeführer*innen, darunter die Richterin Nancy Poser und die Aktivist*innen Raul Krauthausen und Anne Gersdorff, sahen durch die Richtlinien ihre Grundrechte verletzt. Sie beantragten,
„dass die Bundesregierung spätestens innerhalb eines Monats nach Verkündung seines Beschlusses ein Gremium benennt, in dem vertreten sind: medizinische Expert*innen verschiedener Fachrichtungen, Menschen mit Behinderungen, die vom Deutsche Behindertenrat benannt werden, sowie vom Deutschen Bundestag benannte Vertreter. Dieses Gremium soll, bis zur Verabschiedung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, vorläufige Vorgehensweisen entwickeln und beschließen, wie knappe intensiv-medizinische Behandlungs-Ressourcen verteilt werden sollen, wenn im Rahmen der fortdauernden Pandemie eine kritische Behandlungssituation in Deutschland entstehen sollte.“ (Verfassungsbeschwerde 27.06.20)
Einen Antrag auf einstweilige Anordnung wies das Gericht in Karlsruhe damals ab, stellte allerdings fest, dass die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache „nicht unzulässig oder offensichtlich unbegründet” ist.
Urteil des BVerfG
Nun hat das Bundesverfassungsgericht am 16. Dezember 2021 einen Beschluss gefasst. Die Richter gaben den Klägern Recht; der Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderungen oder Vorerkrankungen im Falle einer Triage schützen:
„Da der Gesetzgeber solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen hat, hat er die aus dem Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hier wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) folgende konkrete Handlungspflicht verletzt. Der Gesetzgeber muss – auch im Lichte der Behindertenrechtskonvention – dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert wird.“ (PM BVerfG 28.12.21)
Der Gesetzgeber sei gehalten, dieser Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen. Bei der konkreten Ausgestaltung käme ihm ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.
Die LAG SH Sachsen begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen waren bislang nicht ausreichend vor Diskriminierung und Vernachlässigung in einer Triage geschützt. Nun ist ein schnelles Handeln seitens der Bundesregierung gefordert.
Quellen und weitere Informationen:
Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht
Beschluss BVerfG vom 16.12.2021
Autorin: Anne Hiecke