Bilanz nach der endenden Wahlperiode

Bundesregierung übt Kritik an der Behindertenpolitik

Die Fraktionen im Bundestag ziehen vor den Bundestagswahlen Bilanz. Noch im Mai verabschiedete die große Koalition gegen die Stimmen der Opposition ein mutloses Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Dieses enthält nur ein Mindestmaß an Anforderungen und ist einer Verwirklichung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland kaum einen Schritt nähergekommen (die LAG SH Sachsen berichtete). Vor anderthalb Monaten feierten CDU und SPD das Gesetz als gemeinsamen Erfolg. Nun kritisieren beide Parteien die Behindertenpolitik und schieben die Schuld jeweils dem Koalitionspartner in die Schuhe. Ein interessantes Phänomen, welches vor der anstehenden Bundestagswahl jedoch nicht verwundern dürfte.

Sowohl Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als auch Wilfried Oellers, Behindertenbeauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kritisierten, dass in der endenden Legislaturperiode keine Entgelterhöhung für in den Werkstätten arbeitende Menschen mit Behinderungen eingeführt wurde. Sie begründen dieses Versäumnis mit einem unkooperativen Koalitionspartner. Auch Angelika Glöckner, Sprecherin für Soziales der SPD im Bundestag, wünscht sich beim Thema Werkstattentgelt mehr Transparenz: „Dazu gehört es auch, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in den Werkstätten ein ordentliches Entgelt erhalten.“ Angestellte in Werkstätten sollten mit ihrem Lohn „gut über die Runden kommen“. Warum kein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht wurde, führt Glöckner dabei nicht näher aus. An einem unwilligen Koalitionspartner kann es der Aussage Oellers nach eigentlich nicht gelegen haben. Fest steht also, dass das Werkstattentgelt zwingend erhöht werden muss. Wie die Ausgestaltung aussehen soll, lassen jedoch beide Parteien offen.

Die SPD wünschte sich auch eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe für Betriebe, welche die Beschäftigungsquote für Menschen mit Behinderungen nicht erfüllen. Das dies nicht umgesetzt wurde, liegt wiederum am Unwillen der CDU, so Glöckner: „Hier hat Hubertus Heil einen Vorstoß unternommen und hat gesagt, dort genau an dieser Stelle wo Beschäftigungspflicht nicht erfüllt wird, brauchen wir eine Ausgleichsabgabe und hier muss ich sagen sind wir leider mit dem Koalitionspartner nicht weitergekommen. Das wird dann wohl Teil des Wahlprogramms.“

„Der große Wurf ist leider nicht gelungen“

Weder die CDU/CSU noch die SPD kritisierten allerdings das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, obwohl doch gerade dieses eine Enttäuschung für alle in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderungen ist. Der teilhabepolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Jens Beeck, äußerte dazu deutliche Kritik: „Die Bundesregierung hat insgesamt, außer dem Teilhabestärkungsgesetz vor wenigen Wochen, kein einziges eigenes Gesetz eingebracht, um die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen zu verhindern.“ Weiter betonte Beeck: „Sie geht bei ihrem Teilhabestärkungsgesetz, wie sie es nennt, immer nur Trippelschritte. Sagt selbst, es sind kleine Schritte und weitere Schritte müssten folgen.“ Als weiteres Beispiel führt Beeck das Assistenzhundegesetz an. Sowohl Glöckner als auch Oellers heben es als Erfolg der Bundesregierung hervor. Es ist aber ohnehin nur die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes.

Sören Pellmann, Sprecher für Inklusion und Teilhabe DIE LINKE, kritisierte vor allem, dass Interessenvertreter*innen bei Anhörungen in Gesetzgebungsverfahren oft nur kurzfristig oder gar nicht angehört wurden, wie sonst üblich. Er betont, dass es in der Behindertenpolitik nur viel „Stückwerk und Kleinteiliges“ gab, „aber der große Wurf ist leider nicht gelungen“.

Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik und Bürgerangelegenheiten der Grünen-Bundestagsfraktion, sagt: „In den letzten vier Jahren ist so wenig gelaufen, dass man sagen muss, das waren eigentlich verlorene vier Jahre für die Behindertenpolitik, für die Inklusion insgesamt in diesem Land.“ Konkret nennt sie auch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Hier wurden nur Vorgaben des European Accessibility Acts umgesetzt, laut Rüffer „auf einem Niveau, so niedrig wie möglich.“

Es bleibt viel zu tun

Immerhin herrsche im Bundestag Einigkeit darüber, dass Deutschland einer umfassenden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention weit hinterherhinkt. Ob sich in der nächsten Legislaturperiode Besserungen einstellen werden, wird wohl auch maßgeblich von der Zusammensetzung der Bundesregierung abhängig sein.

Am Sonntag, dem 26. September 2021, wird der 20. Deutsche Bundestag gewählt. Die fünf bundespolitischen Parteien CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen einigten sich darauf, das Verfahren hinsichtlich der Wahlprüfsteine für die Bundestagswahl 2021 zu ändern. Jeder Bundesverband kann über das Online-Formular nur bis zu acht Fragen mit maximal 300 Zeichen einreichen. Diverse Verbände nahmen dies bereits in Anspruch, so auch der Deutsche Gehörlosen-Bund e. V.: www.gehoerlosen-bund.de

(Quelle: Nachrichtenportal EU-Schwerbehinderung, Interviews auf YouTube)